Biografiearbeit für Jan
Jeder Mensch braucht eine Geschichte
von Antje und Rainer Kobiella
Wir versuchen, den neuen BetreuerInnen so individuell und umfassend wie möglich ein Lebensbild unseres Kindes zu vermitteln. Darüber hinaus erfährt sich jeder Mensch auch durch seine Lebensgeschichte in seiner Individualität. Wir persönlich erlebten, wie freudig unser Sohn Jan den Geschichten und Erlebnissen aus seiner Vergangenheit zuhörte. So nahmen wir das Angebot eines "Biografie-Seminars" von LEBEN MIT BEHINDERUNG HAMBURG dankbar auf. In der Begegnung mit den teilnehmenden Eltern stellten wir fest, dass jedes Kind, jeder Jugendliche oder Erwachsene, für die eine Biografie erstellt werden sollte, sehr unterschiedliche Fähigkeiten besitzt. Damit wurde deutlich, dass nur eine sehr persönliche Vorgehensweise und eine individuell abgestimmte Form unser Kind erreichen würde. Ein Buch ist die allgemein übliche Form einer Biografie. Jedoch für behinderte Menschen sind Kalender, Fotos, eine Kiste mit gesammelten Gegenständen, ein offenes Bord, Tonträger und vieles mehr in vielen Fällen von weit größerer Bedeutsamkeit.
Wie die Persönlichkeit der Tochter/des Sohnes die Form und den Inhalt der Biografie bestimmt, so müssen die Art und Weise der Benutzung bedacht werden. Wie vermittelt sich dem Menschen mit Behinderung seine Lebensgeschichte am besten? Soll anhand des biografischen Materials erzählt, vorgelesen werden? Soll selbstständig geschaut, gehört und ertastet werden? Wie ermöglicht das Nacherleben von Bekanntem und Errungenem? Soll eine Vielfalt von Geschichten und Materialien Informationen liefern und die Kontinuität der Persönlichkeitsentwicklung in der Vielfalt der wechselnden Bezugspersonen gewährleisten? Eine "Gebrauchsanweisung" kann da recht sinnvoll sein.
Wir hatten für unseren Sohn Jan, wie später auch für seine jüngeren Geschwister, ein Fotoalbum geführt. Als deutlich wurde, dass Jan die Fotos nicht wird erkennen können, stellten wir diese biografische Arbeit der frühen Jahre ein. Doch viele wunderschöne Fotos entstanden weiterhin und dokumentieren heute Jans Entwicklung. Wir haben außerdem Bastelarbeiten aus den Einrichtungen, Mitteilungsbücher, Tonbandaufnahmen, Spielzeug, Bilder- und Vorlesebücher, Kassetten und CD´s und Behördenbriefe aufgehoben. Die Fülle dieses ungeordneten Archivs und die Frage, wie eine Jan-Biografie aussehen könnte, hemmte uns in der Umsetzung.
Anlass zum Gespräch schaffen
Heute gibt es bereits drei Fotokalender mit Untertiteln für die Wohngruppe. Auf je einem Monatsblatt ist ein besonderer Entwicklungsschritt oder ein besonderes Ereignis eines Lebensjahres dokumentiert. Diese Blätter geben den BetreuerInnen einen Anlass zum "Gespräch" und die Gelegenheit, sich zu informieren. Jan artikuliert sinntragende Laute und mit den Fotos kann Jan etwas über sich erzählen. Das Erzählenlassen ist Jans Form des Berichtens. Zu den 36 Blättern entstehen gegenwärtig Geschichten in unterschiedlichen Erzählstilen. Inzwischen sind die Mitarbeiter in der Tagesstätte für Jan in wunderbarer Weise aktiv geworden. Sie erstellen für jeden betreuten Mitarbeiter eine Biografie. So ist für Jan eine Kiste in der Tagesstätte entstanden, in der sich von seinen Baby-Handschuhen, über Spielzeug bis zu Kassetten und Fotos ihm lieb gewordene Erinnerungsdinge befinden.
Wesentliche Voraussetzung für diese Arbeit waren die Interviews im Elternhaus und in der Wohngruppe. Anlässlich des Interviews und das Zusammentragens des Materials für die Biografiekiste mussten wir Eltern erkennen, dass es uns nicht leichtfiel, die gesamte Geschichte Jans in vielen Einzelheiten wieder auszubreiten. Mit vielen Dingen, Fotos und Stimmen der Vergangenheit sind Empfindungen verbunden. Doch es lohnte, sich diesen Empfindungen zu stellen.
Wir erkannten, wie sehr sich Jan selbst durch seine Lebensgeschichten in seinem besonderen Wesen erfährt. So können wir bei seinen Besuchen im Elternhaus wahrnehmen, dass sich seit der Nutzung der "Kiste" bei Jan ein weiterer Schritt für sein Ich anbahnt, dass er sich seiner mehr bewusst wird. Wir wurden ermutigt, unser Vorhaben einer Biographie (Vorlese-, Material- und Dokumentations-Buch/-Mappe/Kassette mit CD) zügig abzuschließen. Unser Wunsch ist es, Jans seelische Ganzheit zu erhalten, uns eine Zuversicht zu geben, dass Jan in seiner gewordenen Individualität gesehen wird und Anregungen zu geben mit Jan zu kommunizieren. Mit einer Biografie fühlen wir uns auch entlastet und haben die Sicherheit, dass Jan auch ohne uns Wesentliches seiner Lebensgeschichte bewahrt bleibt. Jan Biografie ist zu seinem 40. Geburtstag fertig gworden. Es ist ein Buch entstanden, aus dem Jan zu seinen Erlebnissen etwas vorgelesen werden kann. Besonders wichtig war es uns, dass seine Geschwister und seine Verwandten ihre eigenen Erzählungen beitrugen. Interviews mit seiner Lehrerin, der Gymnastin und den langjährigen Betreuerinnen erzählen Jan etwas aus ihrem Erleben. Jeweils ein Exemplar der Biographie wird in der Tagesstätte und in der Wohngruppe zur Verfügung stehen. Dem erzählenden Teil sind informative und heitere Bemerkungen aus den Verkehrsheften, Dokumentationen und Lieder angefügt worden. Beigeistert hat Jan die CD aufgenommen, die inzwischen als Hörbuch zur Biografie zusammengestellt wurde. Eltern und Geschwister lesen einige Kapitel aus dem Buch vor. Diese Texte werden duch die Tonbandaufnahmen und Liedbeiträge aufgelockert. Gerade in der Arbeitswelt der Tagesstätte findet Jan im Hören dieser CD seine Ruhe und Ausgeglichenheit.
Aus der Zeitschrift "Das Band" Zeitschrift des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., Ausgabe 1/09 (Februar).
www.bvkm.de
Mein Dank geht an Frau und Herrn Kobiella sowie an die Redaktion von "Das Band", dass der Text und das Foto von Jan Kobiella auf bild-boxen veröffentlicht werden darf.