Soll ich dir mal was erzählen?
Gedanken über das Führen von Tagebüchern von Martin Gülden
Minfo 2/2002, Seite 2 von PRD (Prentke Romich Deutschland)
Ein Interview aus dem Spiegel 2/02 mit Bernhard Schlink, Autor des Buches „Der Vorleser“, lässt mich nicht mehr in Ruhe. Das Interview trägt den Titel: „Lesen muss man trainieren“ und beschäftigt sich in Reaktion auf die Pisastudie mit unserem bundesdeutschen Lesen und Schreiben. Schlink setzt sich mit unserer Lesekultur auseinander und den Angeboten, die wir den Lernenden machen, Schriftsprache zu erwerben und Spaß am Lesen und der Auseinandersetzung mit Texten zu bekommen. Zur Information: Im Bereich der Lesekompetenz – in der Pisastudie „reading literacy“ genannt – belegt Deutschland lediglich einen Rang im unteren Drittel. Was mich an diesem Interview hat aufhorchen lassen, war vor allem folgende Aussage von Schlink: „Es gibt eine Theorie zum Analphabetismus, die besagt, dass die eigene Lebensgeschichte von Analphabeten viel schwieriger erinnert wird als von Menschen, die lesen und schreiben können. Wer das Vergangene nicht im Umgang mit Texten präsent halten kann, wird zu einer geschichtslosen Existenz“.
Ich übertrage dieses Zitat auf unser Klientel: „ Die eigene Lebensgeschichte wird von Nichtsprechenden viel schwieriger erinnert als von Menschen, die sprechen können. Wer das Vergangene nicht im Umgang mit Sprache präsent halten kann, wird zu einer geschichtslosen Existenz“. Ein Kind hat keine Biographie, wenn es nicht erzählen kann, was es erlebt hat. Das Erzählen von etwas, was bereits geschehen ist, muss eine enorme Auswirkung auf ein Kind haben. Es entwickelt sich zu einem eigenständigen Gesprächspartner, es speichert das eigene Erlebte auch über die Wiederholung sorgfältiger ab, es entwickelt ein Interesse an dem, was geschehen ist und an dem, was noch geschehen wird.
Ein Tagebuch kann von den Eltern so gestaltet werden, dass aus und mit ihm erzählt werden kann. Es kann mit Fotos, Symbolen, Abbildungen, Zeichnungen ergänzt werden, was auch immer für die Geschichte von Bedeutung ist. Ein solches Tagebuch bietet Erzählanlässe, darf Spaß machen, kann ergänzt werden um neue Geschichten – möglichst aus der Sicht des Kindes. Es muss nicht jeden Tag geschrieben werden. Aber ein Foto von den Giraffen im Zoo, von denen das Kind nicht wegzulocken war und die Eintrittskarte sollte man schon dem Text hinzufügen. Erzählanlässe zu schaffen ist eine äußerst erfolgreiche Methode, mit dem Kind Wortschatzaufbau zu betreiben. In dem angenehmen erleben, einen Dialog zu führen, erfährt das Kind zudem Interesse an seiner Person und an seiner Geschichte. Das Kind erlebt, dass es etwas mitzuteilen hat und dass es schön ist, dies mit einer anderen Person gemeinsam zu tun. Je mehr Vergangenheit dem Kind und dem Gesprächspartner zur Verfügung steht, desto intensiver findet dieser Austausch statt. Mit einem Tagebuch erhält das Kind eine erzählbare Vergangenheit und wird zu einer Person mit einer lebendigen Biographie. Hier findet eine Auseinandersetzung statt, die in der normalen Entwicklung aus sich heraus entsteht. Kinder erzählen von dem, was sie erleben. Wenn sie nicht sprechen können, brauchen sie eine Hilfe, mit der sie lernen, etwas zu erzählen. Dieses Angebot „etwas erzählen zu können“, zieht sich durch alle Formen von Kommunikationshilfen, seien es Tafeln mit Fotos, Erzählungen mit dem BIGmack, Texte im Mitteilungsheft, eine geeignete Auswahl von Wörtern in Sprachausgabegeräten, Gebärden oder Augenzwinkern. Ein Tagebuch, das genussvoll zum „miteinander erzählen“ benutzt werden kann, wird dem natürlichen Bedürfnis eines Kindes gerecht, sich auszutauschen und ermöglicht den Eltern den genauso genussvollen Kontakt mit ihrem Kind.
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